Zeit der Regungslosigkeit

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Vornehmlich liegt das Mädchen im Bett und starrt entweder auf ihren Handy-Display, ihr Tablet oder die Switch, die eigentlich ihrem Bruder gehört, von diesem aber kaum noch genutzt wird. Welche Inhalte konkret sie konsumiert, weiß ich nicht, denn immer wenn ich ihr Zimmer betrete, schaltet sie das jeweilige Gerät schnell aus und fragt mich genervt, was ich von ihr will. Manchmal höre ich sie leise lachen, manchmal höre ich sie singen. Die meiste Zeit aber höre ich keinen Pieps von ihr.

Sie wirkt nicht unzufrieden auf mich, im Gegenteil! Trotzdem erschließt sich mir nicht, wie man seine gesamte Freizeit in einer derartigen Regungslosigkeit verbringen kann. Nach der Schule legt sie sich sofort ins Bett und verharrt dort bis zum Abendessen. Gut, hin und wieder trifft sie sich mit einer ihrer Freundinnen, die es mittlerweile jedoch auch bevorzugen, über WhatsApp zu kommunizieren, statt sich „in echt“ zu treffen.

Verständlich, dass sich jede Generation von ihren jeweiligen Eltern abgrenzt. Vordergründig geht es mir auch nur darum, das Verhalten meines Kindes zu verstehen. Denn es bereitet mir Sorgen. 

Der Körper wird vernachlässigt

Da wäre zum einen der Muskelschwund, den ich befürchte. Es mag lachhaft klingen, aber ich meine es ernst: Jemand, der den Großteil seiner Lebenszeit im Sitzen oder Liegen verbringt, verliert nachweislich Muskelmasse. Und das nicht zu wenig! Liegen wir eine Woche lang nur im Bett, verlieren wir rund 15 Prozent unserer Muskelmasse, heißt es bei Quarks.

Schlussendlich sehen wir vielleicht wirklich einmal so aus wie die Menschen im Animationsfilm Wall-E: Die sitzen tagein, tagaus in ihren Liegestühlen und starren auf Bildschirme, während sie nebenbei die ganze Zeit an Shakes nuckeln, was sie folglich fett und völlig unbeweglich werden lässt. (Als ein Akt der Emanzipation lernen sie am Ende des Films wieder Laufen.) Da Wall-E in mehrfacher Hinsicht ein geradezu zukunftsweisender Film ist, könnte er auch diesbezüglich ins Schwarze treffen.

Selbstverständlich steht das Kind zwischendurch auf, es muss schließlich zur Schule, wo es überdies durch die Flure läuft und sogar zweimal pro Woche am Sportunterricht teilnimmt. Nun, den Rest des Tages verbringt es allerdings in der Horizontalen. Im Bett fühlt sich das Mädchen wohl. Sie beklagt sich nie über über irgendeinen Mangel oder gar Langeweile. 

Geistige Degeneration?

Angesichts der katastrophalen Weltlage ist es niemandem zu verdenken, lieber lustige TikTok-Videos zu gucken als sich über die aktuellen Kriege zu informieren oder gar die unaufhörliche Erderwärmung und ihre verheerenden Folgen ins Visier zu nehmen. Ablenkung scheint ohnehin des A&O der heutigen Zeit zu sein. Ob mittels Sport, Videospielen, Shopping, Fernsehens oder eben Social-Media-Konsums, wir alle schalten geistig gerne ab, sei es aus Faulheit oder zum Schutz vor Depression. Was für mich zum zweiten Mal Anlass zur Sorge ist:

Wer sich nur noch auf Beiträge in der Länge eines Tweets und sekundenkurze Videoclips konzentrieren kann, dem dürfte es schwerfallen, Zusammenhänge zu erkennen und über den Wahrheitsgehalt so manch einer „Nachricht“ zu reflektieren. Bewusst gestreute Desinformationen sind neuerdings zum Bestandteil hybrider Kriegsführung geworden. Weltweit.

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Darüber hinaus ist man dank KI nicht mehr auf eigene Geistesblitze angewiesen. Sind sie nicht ein wahrer Kreativitätskiller, die neuen Medien?

Wenn wir nicht mehr selbst denken, sondern andere für uns denken lassen, wenn wir keine eigenen Gefühle mehr spüren, sondern uns nur noch immer heftiger stimulieren lassen, wenn wir keine eigenen Fantasien mehr produzieren, weil die dargebotenen so viel besser sind, dann gehen unsere ureigensten kognitiven, emotionalen und imaginativen Kräfte verloren.

Rainer Funk, Psychoanalytiker, Interview im Tagesspiegel vom 22.11.2024

Ein Kollege, bei dem ich mich mal über die „Seuche Social Media“ ausheulte, beruhigte mich achselzuckend mit der Aussage: „Als der Buchdruck erfunden wurde, dachten die Leute auch, das sei der Anfang vom Ende.“ Das Gegenteil war der Fall. Die Menschheit hat sich seither sprunghaft weiterentwickelt.

Statt die digitalen Medien zu verteufeln, sollte ich sie vielleicht als das ansehen, was sie wirklich sind: Ein Werkzeug. Wie man es nutzt, entscheidet darüber, ob man davon profitiert – oder sich darin verliert. Insofern ist es angebracht, insbesondere jungen Nutzer*innen beizubringen, wie sie die digitalen Medien selbstbestimmt einsetzen können. Stichwort: Medienkompetenz.

Unmündig

Zu guter Letzt sei erwähnt, dass das Kind nicht nur deshalb gern im Bett liegt und sich berieseln lässt, weil es die angezeigten Inhalte derart interessant findet. Nein, es wird ganz bewusst sediert, um seine Nutzungsdauer auf den Plattformen ins Unendliche zu verlängern. Für bestimmte Medienkonzerne ist das Kind nichts weiter als eine Kuh, die gemolken wird. Solange es an den Display gefesselt ist, fließt das Geld. Aber welches Kind durchschaut das? Und nehmen wir an, man erzählte es ihnen: Würde sie das stören?

Wohl kaum.

Gelinde gesagt, decken sich die Interessen der Konzerne nicht mit denen der Menschen, erstrecht nicht denen der Kinder, doch selbst uns Erwachsenen fällt es schwer, das zu beurteilen. Die Datenschutzdebatte hat uns „Große“ ja auch nicht gejuckt. Die wenigsten haben erkannt, welch unglaublichen Wert unsere Daten für die Online-Branche haben. Die Mehrheit von uns ist schlicht uns ergreifend unmündig, wenn es um Internet und Digitalisierung geht:

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Wer von uns kann programmieren? Wer von uns durchschaut die Algorithmen der Onlineshops und Social-Media-Kanäle, die wir nutzen? Wer von uns kann erklären, was WLAN ist? Wer von uns weiß, wie ein Touchscreen funktioniert? Und wer von uns könnte selbigen reparieren, wenn er kaputtgeht?

Wir tragen kleine magische Geräte mit uns herum, über die wir nichts, aber auch wirklich gar nichts wissen. Während die Welt um uns herum immer komplexer wird, erliegen wir der Mär, dass das Leben dank Digitalisierung so viel einfacher geworden ist.


Ich nehme an (und hoffe sehr), dass die Antriebslosigkeit des Kindes auf eine vorübergehende pubertäre Phase zurückgeht. Ihr Bruder war ja einst ebenfalls im Bann der Computerspiele, hat sich nach einer gewissen Zeit allerdings wieder seiner Außenwelt geöffnet und findet es mittlerweile wesentlich spannender, sich mit seinen Kumpels zu treffen als nur mit ihnen zu chatten. Tatsächlich nimmt er sein Handy erstaunlich selten zur Hand.

Nichts desto Trotz halte ich es für notwendig, Schüler*innen nicht nur über die Gefahren der digitalen Medien aufzuklären, sondern ihnen auch beizubringen, wie sie sie zu ihren Gunsten nutzen können. Eine Schulung zum Umgang mit dem Werkzeug Internet sozusagen. Dass Medienkunde in den meisten Bundesländern noch kein eigenständiges Unterrichtsfach ist, finde ich fahrlässig.

Die Rufe einiger Politiker nach einer Intensivierung des Mathe- und Deutschunterrichts sind m. E hingegen völlig überholt: Jedes pupsige eMail-Programm bietet heutzutage eine Rechtschreibkorrektur und ChatGPT löst noch so komplexe Mathematikaufgaben in Sekundenschnelle. Was wir wirklich brauchen, sind Programmierkenntnisse und das Wissen um die Funktionsweisen von KI, vor allem aber um die Interessen der Unternehmen, die uns diese Programme zur Verfügung stellen. Statt abhängig zu bleiben, sollten wenigstens unsere Kinder mündig werden.

MM


Beitragsbild von ROBIN WORRALL


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2 Kommentare

  1. Queen All

    Selbst die Programmierkenntnisse werden zunehmend von KI-Tools übernommen. Die Grundlagen zu kennen, ist meiner Meinung nach trotzdem nicht falsch. Ebenso, wie die Funktionsweisen und Algorithmen dahinter.
    Ich muss zugeben, dass ich Eltern so überhaupt nicht beneide. Ich hätte keine Ahnung, was ich in so einem Fall mit dem Kind anstellen sollte. Andererseits beeindruckt mich bei manchen wirklich die geistige Reife, die ich glaube ich in dem Alter nicht an den Tag gelegt habe.

    • Miss Minze

      Tatsächlich bin ich auch hin- und hergerissen, was ich von der medialen Entwicklung in Bezug auf Kinder und Jugendliche halten soll: Einerseits sehe ich, wie sie paralysiert an ihren Geräten hängen, andererseits überraschen sie mich mit ihrer Klugheit. Offenbar ist das Internet doch nur ein Werkzeug – und jene, die damit aufgewachsen sind, können besser damit umgehen als wir ollen Dinosaurier…

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