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Rezension zu Eva Illouz‘ „Warum Liebe weh tut“ – Eine soziologische Erklärung

Dass selbst Wissenschaftler*innen hin und wieder das Feld der Liebe beackern, mag verwundern. Schließlich ist die Liebe ein quasi-mystisches Gefühl. Verliebt zu sein, kommt einem Zauber gleich, dem man sich nicht entziehen kann:  

Und dann waren da ihre Augen – oder vielmehr ihr rechtes Auge. Es schielte leicht, und wie er das an jenem Tag der ersten Verliebtheit hatte übersehen können, war ihm unklar. Aber man musste zweimal hinsehen, um den Damenbart an ihrem Kinn zu erkennen […].
Ein Verehrer, der etwas weniger geblendet vom Licht der Gewissheit gewesen wäre als Baldassare, hätte diese kleinen Makel wohl zu ihrem Nachteil ausgelegt, Baldassare aber vergötterte sie alle. Sie gehörten zu ihr, waren Teil jener Besonderheit, die sie unter allen Frauen einzigartig machte. Zufrieden sah er zu, wie Hüften und Hinterteil schwollen, so dass sie schon mit neunzehn einen Watschelgang hatte, voller Glücksgefühl beobachtete er, wie die roten Flecken sich von ihrem Hals auf Wangen und Stirn ausbreiteten und wie das rechte Auge langsam nur noch seitlich nach außen zum Fenster hinausschielte, denn mit jedem Tag war er sicherer, sie würde die Seine. Wer sonst könnte in ihr sehen, was er sah?

T. C. Boyle: Die unterirdischen Gärten

Trotzdem (oder gerade deshalb) untersucht auch die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch “Warum Liebe weh tut” die gesellschaftlichen Grundlagen der Liebe. Ihre These lautet, dass sich die Liebe im Zuge der sexuellen Freiheit verändert hat – und mit ihr das Leiden an der Liebe. Und da “die Wissenschaft dazu berufen ist, Rätsel zu lösen und Geheimnisse aufzuklären, nicht ihrem Bann zu erliegen”, sei gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass Illouz mit ihrem Buch die Liebe weitestgehend entzaubert. Wer sich den Glauben an die wahrhaftige und unvergleichliche Liebe bewahren möchte, sollte “Warum Liebe weh tut” deshalb besser nicht zur Hand nehmen. 

“Der große Ehrgeiz dieses Buches ist es somit, […] mit der romantischen Liebe das zu tun, was Marx mit den Waren getan hat: zu zeigen, dass sie von den gesellschaftlichen Verhältnissen geformt ist; dass sie nicht auf freie und uneingeschränkte Art zirkuliert; dass ihr Zauber ein sozialer Zauber ist; dass sie die Institutionen der Moderne in komprimierter Weise in sich trägt.”

Eva Illouz: Warum Liebe weh tut

Lieben um der Liebe willen

Dies gelingt Illouz, indem sie vor allem die Prozesse der Partnersuche bzw. -wahl unter die Lupe nimmt und diese mit den jeweiligen Praktiken und Überzeugungen vergleicht, die in der Vormoderne herrschten. Hier zitiert sie vor allem Liebesromane, Tagebucheinträge und Briefe aus dem 19. Jahrhundert. Interessant dabei ist vor allem für LeserInnen wie mich, die historisch nicht allzu bewandert sind, dass die Frauen und Männer damals “merkwürdig frei von jeglichem Bedürfnis nach einer Bestätigung durch ihre Verehrer” waren. Und nicht nur das: Sie waren generell unabhängig vom Wert, den man ihnen von außen zusprach (oder nicht). 

Das Selbstwertgefühl war einst unabhängig von der Liebe

Nehmen wir also einmal an, dass eine Frau, die von ihrem Angebeteten mit den Worten “Sie sind mir zu alt, Werteste, und obendrein hässlich!” abgelehnt wurde, so litt sie natürlich unter der Zurückweisung. Die Worte selbst kratzten jedoch weder an ihrem Selbstwertgefühl noch konnte eine solche Zurückweisung die Liebe, die sie für den Angebeteten empfand, schmälern. Sie liebte ihn einfach aus der Ferne weiter. Diese Geisteshaltung ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie so gegensätzlich zur heutigen Bewertungskultur steht, in welcher man angesichts einer solchen Demütigung gefühlt tausend Tode stirbt, denn “in der Moderne erfahren wir Bestätigung größtenteils durch die Liebesbeziehung”.

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Darüber hinaus wird an diesem Beispiel ersichtlich, dass Liebende im Viktorianischen Zeitalter nicht auf Gegenliebe angewiesen waren. Sie liebten um der Liebe selbst willen, was den Schmerz nur versüßte. Ganz ähnlich verfuhren schon die mittelalterlichen Minnesänger, deren Lieder und Gedichte zumeist unerreichbaren Frauen gewidmet waren.  

Über die vielfältigen Wege, an der Liebe zu scheitern

Doch das ist nicht die einzige Erkenntnis, die Eva Illouz auf den ca. 450 Seiten ihres Buchs zu Tage fördert. Das Liebesleid – so erfährt der Leser – gründet sich auf vielerlei Ursachen. Tatsächlich gibt es laut Illouz so viele Möglichkeiten, an der Liebe zu scheitern, dass es fast schon an ein Wunder grenzt, wenn eine Beziehung gelingt. 

Scheitern kann man zum Beispiel bei der Online-Partnersuche, um mal wieder auf die Neuzeit zurückzukommen. Da ich Illouz’ Ausführungen diesbezüglich besonders überraschend fand, möchte ich sie euch kurz zusammenfassen: 

Die Idealisierung des anderen: Kein Grund für Enttäuschung?

Unbestritten lebt die Liebe von der Macht der Einbildung (siehe Zitat oben von T.C. Boyle), was sich vor allem in der Idealisierung des Menschen niederschlägt, in den man sich verliebt hat. Da man ihn oder sie nicht gut genug kennt, muss man sich den Schwarm aus Informationsbruchstücken zusammensetzen und etwaige Wissenslücken mit Fantasie auffüllen. Demzufolge liebt man nicht einen bestimmten Menschen, sondern vielmehr eine Fantasiegestalt:

Kurioserweise ist Liebe eine Form der Anerkennung des oder der Anderen, die nicht unbedingt Erkennen voraussetzt. Sie setzt lediglich voraus, dass ich dem Wesen bestimmte Eigenschaften zuschreibe, die ich als […] „begehrenswert“ begreife.

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Ich habe dies bislang stets für die Crux der Liebe gehalten, weil man – so meine persönliche These – nur enttäuscht werden kann: Die Realität kann dem Traum ja doch nicht das Wasser reichen. Illouz sieht das ein wenig anders. Sie entlarvt meine Einbildungskraft als vorgreifende Gefühle:

Ich erlebe sozusagen in meinem Kopf eine Liebesgeschichte, die ich so oder ähnlich schon einmal in einem Roman gelesen oder einem Film gesehen habe. Demnach habe ich eine ganz bestimmte Vorstellung von der Liebe und dem Wesen, das ich liebe.

Erst als der Gebrauch der Einbildungskraft durch Romane angeregt wurde, entwickelte sich diese zu einer Quelle der Enttäuschung.

Eva Illouz: Warum Liebe weh tut

Enttäuschend ist dies deshalb, weil ich mich nicht mehr auf die Liebe einlassen kann, so wie sie eben wirklich ist. Das Leben ist kein Ponyhof, heißt es humorvoll. Ebensowenig ist das Leben ein Liebesroman. Nur will das niemand wahrhaben.

Das geliebte Wesen ist nur eine Projektionsfläche für unsere Fantasie

Nicht nur Romane seien das Problem, sondern generell alle fiktionalen Werke, die uns Konsumenten als Blaupause für ein erstrebenswertes Leben – und natürlich die große Liebe dienen. Bevor jene fiktionalen Schablonen mit dem eigenen Gefühlsleben verglichen wurden, war die Fantasie des Menschen jedoch tatsächlich ein Motor für die Liebe.

Nun könnte man verleitet sein, selbige Art der Enttäuschung vom Online-Dating zu erwarten, doch hier verhält es sich – Überraschung! – genau umgekehrt. In den Profilen der virtuellen Partnerbörsen werden derart viele Informationen ausgetauscht, dass die Einbildungskraft überhaupt nicht mehr zum Einsatz kommt. Doch “zu viel psychologisch-verbales Wissen über den anderen kann es erschweren, sich von ihm oder ihr angezogen zu fühlen”. Es mag paradox klingen, aber laut Illouz ist die Idealisierung des anderen eine Grundvoraussetzung für die Entstehung von Liebe

Was diese Behauptung angeht, muss ich zugeben, dass ich sie anzweifle – oder zumindest nicht gänzlich verstehe: Schließlich gibt es unzählige Paare, deren Liebe sich aus einer Freundschaft heraus entwickelt hat. Sie wussten also durchaus übereinander bescheid, was ihre Fantasie mit Sicherheit einschränkte. Trotzdem lieben sie einander – nur eben auf den zweiten Blick. Für die Soziologin scheint diese Form der Liebe nicht zu existieren. Jedenfalls erwähnt sie sie im Buch nicht einmal.

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Wenn die Auswahl zu groß ist: Schwächen der Online-Partnersuche

Auch das überwältigende Gefühl der Einzigartigkeit, das einst bezeichnend für das Gefühl der Liebe war, ist in der schieren Masse potentieller Partner untergegangen.

Eva Illouz: Warum Liebe weh tut

Illouz vertieft lieber ihre Beweisführung hinsichtlich der Schwächen des Online-Datings, das ihrer Meinung nach keinerlei Verbindlichkeit verlangt. Schließlich ist das Angebot an potentiellen Liebhaber*innen groß. Die Auswahl ist folglich riesig, was die Entscheidung schier unmöglich macht: Beständig nagt der Zweifel an der eigenen (Liebes-)Entscheidung, weil man sich nie sicher sein kann, ob man den/die Richtige(n) auserwählt hat – oder doch noch ein “besseres Examplar” auf einen wartet.

Zumal das Verliebtsein ohnehin peu à peu schwindet. Biologen geben den Schmetterlingen im Bauch allerhöchstens zwei Jahre. Dann ist das chemische Gleichgewicht im Körper wiederhergestellt – und der Zauber gebrochen.

Wie es danach weitergeht, ist nicht Inhalt des Buches – ebensowenig erteilt Eva Illouz Ratschläge. Allerdings widmen sich diverse fiktionale Werke der Zeit des „Erwachens“ und Wiedereintauchens in die Wirklichkeit. Auf skurrile Art und Weise begleitet zum Beispiel die Miniserie „The Resort“ ein nach fünfzehnjähriger Beziehung ernüchtert-gelangweiltes Ehepaar bei dessen Versuch, ihre Liebe neu zu entfachen*. Dass das ein schier unmögliches Unterfangen ist, beschreibt wiederum Richard Yates eindringlich in seinem Roman „Zeiten des Aufruhrs“, der ebenfalls verfilmt worden ist.

Fazit: Die romantische Liebe ist ein Auslaufmodell

Eva Illouz macht in ihrem Buch deutlich, dass sie selbst kein Fan der romantischen Liebe ist, weil sie sie für ein Märchen hält, das vor allem Mädchen und Frauen fesselt. Da sie nicht nur Soziologin, sondern auch Feministin ist, wünscht sie sich eine Begegnung von Männern und Frauen auf Augenhöhe, gerade in Liebesdingen. Denn dass die Liebe existiert, steht auch für Illouz außer Frage:

Wie jedem Erwachen nach einem Rausch geht einer ernüchterten Befürwortung der Moderne die Glut der Utopien und Denunziationen ab. Aber sie bietet die leise Hoffnung, dass wir diese Zeiten mit geistiger Klarheit und Selbsterkenntnis besser durchleben und vielleicht sogar neue Formen leidenschaftlicher Liebe wiedererfinden können.

Eva Illouz: Warum Liebe weh tut

MM

Eva Illouz: „Warum Liebe wehtut. Eine soziologische Erklärung.“
Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag. Berlin. 2011. 477 Seiten.

Beitragsbild: Jonnathan Fonthiercgz on Unsplash

*Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie nahe gerade die von Eva Illouz etwas verunglimpften fiktiven Werke der Wahrheit oftmals kommen – und wie treffsicher sie dies zudem formulieren. Warum Liebe weh tut, erklärt die Protagonistin Emma in der Serie „The Resort“ in ein paar kurzen Sätzen. Aber sie fassen im Prinzip das gesamte Buch von Eva Illouz zusammen:

I just… I think I was falling in love with the idea of Violet and Sam, because they were at that time in their life when everything is so meaningful, and the highs are, like, so fucking high, you know?
And who doesn’t want to go back in time to that first love?
I just think that’s why we love „Titanic“ and „Romeo and Juliet“ so much. But then we forget how fucking low the lows are. Romeo and Juliet die, and the „Titanic“ sinks. The highs are never as high again, but the lows just keep getting lower.
And in the end everything just floats in the middle.
Maybe that’s the disappointment of time! Disappointment of time. Or disillusionment of time.
I… fuck. I don’t know.
We took this vacation to celebrate our wedding anniversary. It’s been ten years. And the entire process has made me realize that my future won’t be as good as my past.

„The Resort“, EPISODE 7 – LA PUBERTAD DEL MATRIMONIO

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