Rezension zu Serhij Zhadan’s: „Internat“ (Roman)
Dass im Donbass schon lange vorm Einmarsch der Russen in die Ukraine Krieg herrschte, habe ich nur am Rande wahrgenommen. Es schien so weit weg und irgendwie unbedeutend. Erst seitdem der gesamten Ukraine der Krieg erklärt wurde, hat sich das öffentliche Interesse schlagartig gewandelt. Wie alles anfing, davon erzählt Serhij Zhadan in seinem Roman „Internat“.
Pascha interessiert sich nicht für den Krieg. Deshalb ignoriert er alles, was damit zu tun hat, schaut nicht einmal die Nachrichten. Stoisch begibt er sich Tag für Tag zur Schule, wo er als Lehrer arbeitet. Ansonsten verkriecht sich der 35-jährige Protagonist in der Plattenbauwohnung, die er zusammen mit seiner Zwillingsschwester und dem Vater bewohnt. Der Alte nötigt ihn eines Tages jedoch, seinen Neffen aus dem Internat abzuholen. Schließlich sind Ferien und die Mutter als Schaffnerin dauernd unterwegs.
Pascha begibt sich somit widerstrebend in die Nachbarstadt, in der sich das Internat befindet. -Zumindest hat er das vor, als er frühmorgens in den Bus steigt. Von da an beginnt allerdings eine mehrtägige Odyssee, denn die Stadt wird belagert und beschossen. Separatisten und ukrainische Soldaten verwandeln die namenlos bleibende Stadt in der Ostukraine in eine Art Vorhölle. Der Bus kommt nicht weit, denn er wird von Soldaten angehalten. Danach irrt Pascha vornehmlich zu Fuß durch Regen, Nebel und Kälte. Begleitet wird er stets und ständig von der Angst, auf eine Miene zu treten oder erschossen zu werden. Er zögert, weiß nicht, wohin, zweifelt immer wieder an sich selbst. Er ist kein Held, im Gegenteil: Weichei wird er von seinem Neffen genannt. Und dennoch wächst er mit jedem Schritt auf seiner unfreiwilligen Winterreise ein Stückchen mehr über sich hinaus.
Normalerweise lese ich keine Bücher, die vom Krieg handeln, denn Krieg interessiert mich genauso wenig wie den Protagonisten Pascha. Dass ich dieses Buch zur Hand genommen habe, ist einem Missverständnis geschuldet: Ich dachte wirklich, es sei eine Geschichte über ein ukrainisches Internat. Erst vor Kurzem habe ich nämlich “Das Birnenfeld” gelesen, ein Roman, der von einem georgischen Internat handelt und mir sehr gut gefallen hat. Ich sollte mir demnächst den Klappentext eines Buches genauer durchlesen…
Der Krieg ist ein Ausnahmezustand. Was soll er mich über das wahre Leben lehren?, dachte ich und lehnte alles ab, was mit Krieg zu tun hatte. „Internat“ von Serhij Zhadan zeigt allerdings genau das: Wie der Krieg in das wahre Leben eindringt und einen gewöhnlichen Mann zwingt, sich in dieser neuen Situation zurechtzufinden und vor allem zu überleben. Das ist die eine große Stärke des Romans. Eine weitere, dass es im Buch weder Freunde noch Feinde gibt. Selbst in Bezug auf die Soldaten werden keine Unterschiede gemacht: Pascha hat vor ihnen allen Angst, ob sie die ukrainische Flagge tragen oder die russische. Als Mann ohne Uniform erscheint Pascha ohnehin jedem verdächtig, dem er begegnet: Warum er nicht kämpfe, wird er immer wieder gefragt. Man kann ihn nicht einordnen. Ist er Feind, Verräter oder Deserteur?
Er habe sich nichts zu Schulden kommen lassen, merkt Pascha an, und deshalb auch nichts zu befürchten. Aber er ist auch nie für jemanden eingestanden, hat nie Farbe bekannt. Und genau das fällt ihm nun auf die Füße: Die Leute begegnen ihm mit unverhohlenem Misstrauen. Niemand hat etwas für ihn übrig, nicht einmal sein eigener Neffe, für den er diese Odyssee auf sich genommen hat.
Im Laufe der Geschichte – so viel sei schon mal verraten – wird Pascha bewusst, dass er mit seiner Masche, das Fähnlein nach dem Wind zu drehen, nicht weit kommt. Er muss Verantwortung übernehmen, für sich selbst, seinen Neffen und das Land, in dem er lebt.
Sprachlich handelt es sich bei dem Roman „Internat“ um ein mitreißendes Werk, eines, das der Wahrheit näher kommt als jedwede Kriegsberichterstattung. Nur mit den Mitteln der Sprache schafft es Zhadan eindrücklich zu vermitteln, wie sich Krieg anfühlt. Tatsächlich war ich richtig traurig, als ich merkte, dass sich das Buch dem Ende neigt. Gerne hätte ich Pascha und seinen Neffen noch weiter begleitet.
Ich habe mir “Internat” als Hörbuch angehört. Deshalb kann ich meinen Beitrag leider nicht mit Zitaten unterfüttern. Aber über den Autor Serhij Zhadan schreibt der Deutschlandfunk:
Ausgerechnet einen passiven ehemaligen Homo sovieticus also hat sich der politisch so dezidiert für die ukrainische Sache kämpfende Serhij Zhadan als Romanhelden ausgesucht – das ist motivisch und dramaturgisch bemerkenswert. Seit im Winter 2013/14 Gegner und Befürworter des Maidan in seiner Heimatstadt Charkiw aneinandergerieten, engagiert sich Serhij Zhadan für eine prowestliche Ukraine und gegen die Separatisten und deren selbsterklärte Volksrepubliken im Donbass. Er begleitet Hilfskonvois in das umkämpfte Industriegebiet von der Größe des Saarlandes, veranstaltet Literaturfestivals und gibt Benefizkonzerte mit seiner Band „Sobaky w Kosmosi“, Hunde im Kosmos“.
DLF: Drehbuch aus dem Krieg
MM
Beitragsbild: Dimitar Donovski on Unsplash
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