Rezension zu Cho Nam-joo: „Kim Jiyoung, geboren 1982“. Aus dem Koreanischen übersetzt von Ki-Hyang Lee. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2021. 208 Seiten.
Der Feminismus hat mich nie sonderlich interessiert. In den Industrieländern des westlichen Kulturkreises herrscht schließlich Geschlechtergerechtigkeit. Die meisten Kämpfe wurden erfolgreich für die Frau ausgefochten. Mittlerweile wünscht sich die Mehrzahl werdender Eltern hierzulande sogar lieber ein Mädchen als einen Jungen, während in ärmeren Ländern immer noch gerne vom Recht auf Abtreibung Gebrauch gemacht wird, wenn sich weiblicher Nachwuchs ankündigt. -Das war auch in Südkorea bis in die 80er Jahre hinein Praxis. Die Hintergründe und Folgen beleuchtet der Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-joo, den ich euch – wie folgende Buchempfehlungen – ans Herz legen möchte.
Der Werdegang einer durchschnittlichen Südkoreanerin
Weil die junge Mutter Kim Jiyoung plötzlich in die Rollen ihr bekannter Frauen schlüpft und sich haargenau so verhält wie diese, wird sie von ihrem Mann zu einem Psychologen geschickt, der die Lebensgeschichte der Protagonistin aus seiner Sicht erzählt – und am Ende eine deprimierende Diagnose stellt.
Sachlich und kühl beschreibt die südkoreanische Autorin Cho Nam-joo ihre Protagonistin als vorbildliche Tochter, die sich stets an die Regeln hält, artig lernt und gute Noten schreibt, fleißig im Haushalt hilft und schließlich auch an der Uni ihr Bestes gibt. Sie ergattert nach ihrem Abschluss einen Job in einer Marketingagentur, in der sie sich wohlfühlt. Bald aber merkt sie, dass sie trotz einer ihr wohlgesinnten Vorgesetzten beruflich auf der Stelle tritt: Ihre männlichen Kollegen auf demselben Level verdienen mehr als sie, werden öfter als sie befördert und erhalten die lukrativeren Projekte. All das, weil der Agentur-Chef davon ausgeht, dass Jiyoung ohnehin bald Mutter wird und folglich das Unternehmen verlässt. Wozu also in die junge Frau investieren?
Als der Roman im Original 2016 erschienen ist, gab es in Südkorea weder Mutterschutz noch Elternzeit. Junge Mütter sollten deshalb theoretisch schon wenige Wochen nach der Geburt ihres Kindes wieder arbeiten gehen. Da es für Säuglinge jedoch keine außerfamiliäre Fremdbetreuung gab, waren die meisten Frauen gezwungen, ihren Job aufzugeben und sich selbst um das Kind zu kümmern.
Mit der Mutterschaft beginnt der gesellschaftliche Abstieg
Tatsächlich wird Kim Jiyoung schwanger und das Schicksal nimmt – wie vom Chef prophezeit – seinen Lauf: Sie kündigt und fügt sich in ihr Hausfrauendasein. Von da an entwickelt sich ihr Leben zu einer einzigen Enttäuschung, die schließlich in der Psychose mündet.
Ich habe meine Kinder stets als Bereicherung begriffen und gerne Zeit mit ihnen verbracht, auch wenn das bedeutet hat, auf eine Karriere und Geld zu verzichten. Das “Vereinbarkeitsgeheule” anderer Mütter konnte ich deshalb nie so richtig nachvollziehen. Mit diesem Buch hat sich mein Blickwinkel verändert. Ich verstehe nun, dass es sehr viel ehrgeizigere Frauen gibt als mich, die hart für ihren beruflichen Erfolg arbeiten und von der Mutterschaft und den damit verbundenen Abstrichen vollkommen aus der Bahn geworfen werden.
Die Einbußen beziehen sich ja nicht nur auf Geld und Karriere, sondern wirken sich auch auf das Selbstbild aus. Wertschätzung erfährt die Protagonistin im Alltag überhaupt nicht mehr. Im Gegenteil, so wird Kim Jiyoung einmal von fremden Angestellten als “Sch-mama-rotzer” bezeichnet – eine Anspielung darauf, dass sie sich auf Kosten ihres Mannes ein angenehmes Leben macht, anstatt selber arbeiten zu gehen (so, als habe sie sich nur aus diesem Grund schwängern lassen).
Jiyoungs Wünsche erlöschen
Ironie des Schicksals: Jiyoung ist nur deshalb Mutter geworden, weil sie dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben hat, der besagt, dass Kinder nun einmal zu einer Ehe dazugehören und überhaupt das höchste Glück seien.
Eine baldige Rückkehr in ihren alten Job wird ihr vom Umstand verwehrt, dass dieser nicht in Teilzeit ausgeübt werden kann. Nach und nach schraubt Jiyoung ihre Ansprüche herunter, bis sie sich schließlich als Bedienung in einem Eiscafé bewirbt, weil die Arbeitszeiten dort mit den Betreuungszeiten des Kindergartens harmonieren.
Chos Roman ist eine Chronologie der Enttäuschungen und Ernüchterungen. Er erzählt davon, wie Jiyoungs Wünsche erlöschen, weil man ihr den Raum zur Entfaltung raubt.
Zeit Online
Wie konnte ich nur so blind sein?
Zwar sind die Bedingungen für berufstätige Frauen in Deutschland sehr viel besser als in Südkorea. Arbeit und Familie lassen sich hierzulande relativ gut miteinander in Einklang bringen. Allerdings haben mit Sicherheit auch hier viele Mütter bereits die Erfahrung gemacht, dass sie sich oft in einer Zwickmühle befinden: Streben sie eine Karriere an, werden sie als Rabenmütter bezeichnet, die ihre Kinder vernachlässigen. Geben sie die Erwerbsarbeit auf, sinkt ihr Ansehen auf das von Parasiten. Arbeiten sie in Teilzeit, geraten sie aufs berufliche Abstellgleis – mit negativen Auswirkungen auf ihre Rente.
Es ist das Verdienst des Romans „Kim Jiyoung, geboren 1982“, überhaupt erst eine Sprache zu finden, um die kleinen und so alltäglichen Unterschiede und Ungerechtigkeiten aufzuzeigen. Ja, das Überraschendste für mich war tatsächlich, dass ich all das nicht gesehen hätte, wenn mir die Augen dafür nicht geöffnet worden wären. Nach der Lektüre frage ich mich, wie ich nur so blind sein konnte.
Insofern erzählt das Buch nicht nur von mangelnder Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch von einer unterschwelligen Misogynie, die frau weltweit erlebt, jedoch nicht anprangert, weil sie sie für selbstverständlich hält.
MM
Titelbild von Larm Rmah
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