Im Vasa-Museum in Stockholm gibt es neben dem alten Kriegsschiff auch viele kleinere Schiffsmodelle aus Holz anzuschauen. Als wir vorletzten Winter dort waren, faszinierte mich besonders der Querschnitt der Vasa, auf dem man sehen kann, wie viele Ebenen das Schiff hatte und zu welchem Zweck es sie gab. Dazu hat man minutiös Gegenstände, Tiere und Menschen nachgebildet. Im Lagerraum gab es klitzekleine Männlein, die Säcke schleppten und Tiere fütterten, in der Kombüse schälte einer Gemüse, auf dem Deck schaute ein anderer durchs Fernrohr. Auf dem ganzen halbierten Schiff wimmelte es vor geschäftigen Menschlein. Ein jeder ging seiner ganz speziellen Aufgabe nach.
Schon bald aber schlug meine Faszination in Ekel um, denn dieser Anblick erinnerte mich plötzlich an die Ameisenfarm im Berliner Aquarium. Auch dort kann man im Querschnitt beobachten, wie es in einem Ameisenhaufen zugeht. Tatsächlich sind alle Ameisen sehr geschäftig in den unterschiedlichsten Gängen und Räumen unterwegs. Jede geht ihrer ganz speziellen Aufgabe nach.
Die Eingebung traf mich wie der Schlag. Mein Gott, dachte ich, wir sind nichts anderes als Ameisen! Noch Wochen später ernüchterte mich die Erinnerung an meine desillusionierende Erkenntnis. Irgendwann vergaß ich sie wieder.
-Bis ich heute in dem Buch „Vom Mythos des Normalen“ von Gabor Maté erneut auf den Mensch-Ameisen-Vergleich stieß und an meine frühere Eingebung erinnert wurde. Statt in Bestürzung zu verfallen, freute ich mich diesmal jedoch darüber, dass auch anerkannte Forscher die große Ähnlichkeit zwischen unseren beiden Spezies erkannt haben.
Im Folgenden zitiere ich lose aus dem Kapitel „Vorprogrammierte Krisen: Wie unsere Kultur unseren Charakter formt“
Wir Menschen unterscheiden uns in unserer Ermangelung eines unabhängigen, selbstbestimmten Ichs gar nicht so sehr von einem anderen hochgradig sozial organisierten Lebewesen: der Ameise.
In einem Ameisenvolk schlüpfen alle Larven mit praktisch dem gleichen Satz von Genen. Die späteren Königinnen, die Arbeiterinnen und die Kriegerinnen sind zu Beginn alle gleich. Welches Individuum sich wie entwickelt und welche biologischen Merkmale es annimmt, hängt ganz von den Bedürfnissen des Volkes ab.
Genetisch identische Geschwister entwickeln sich allein durch Signale aus ihren physischen und sozialen Umfeld zu biologisch unterschiedlichen erwachsenen Tieren.
Was aus der einzelnen Larve wird, hängt von einem Prozess ab, der auf staatlicher Ebene abläuft. Insofern wird eine junge Larve in eine funktionale Position in der Kolonie hineingeboren und ihre Entwicklung wird durch diese Position bedingt.
Bei all unserer Verbundenheit mit unserem individuellen Selbstkonzept sind wir in dieser Hinsicht doch erstaunlich ameisenhaft. Unser Charakter und unsere Persönlichkeit spiegeln die Anforderungen des Milieus wieder, in dem wir uns entwickeln.
Wir sind dazu konditioniert, uns in unsere Familien einzugliedern, auch wenn dies mit einer Entfremdung von unserem authentischen Selbst einhergeht. Genauso werden wir dazu erzogen, die sozialen Rollen einzunehmen, die von uns erwartet werden und die dafür erforderlichen Eigenschaften anzunehmen.
Mittlerweile beruhigen mich die Parallelen zur Ameise sogar, zeigen sie doch auf, dass es sinnlos ist, gegen sein Schicksal aufzubegehren. Zu sehr haben wir es bereits verinnerlicht. Wie viel von dem, was wir denken und wie wir fühlen, geht wirklich noch auf uns selbst zurück? Was wurde stattdessen von außen in uns hineinprogrammiert? Möglicherweise gibt es so etwas wie ein Authentisches Selbst gar nicht?
Das würde auch erklären, weshalb wir die Gesellschaft und Kultur, in der wir leben, selten bis gar nicht in Frage stellen. Mein oft genutzter Ausspruch „über den Tellerrand schauen“ ist hinfällig geworden, denn es scheint, wir seien am Boden des Tellers festgemacht. Mit dem Gesicht nach unten.
Im Gegensatz zu Ameisen wollen wir unserem Leben allerdings Bedeutung verleihen. Während eine Ameise (vermutlich) einfach nur lebt.
MM
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