Übungen in Verantwortung

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Ich weiß gar nicht mehr so genau, warum ich mit Qi Gong angefangen habe. Wahrscheinlich wollte ich zum einen meinen Rücken stärken und darüber hinaus ein paar Entspannungsübungen erlernen. In unserer Volkshochschule stand damals nur ein einziger Kurs in der Nähe zur Auswahl und diesen besuchte ich daraufhin. 

In diesem Jahr wurde die damalige Trainerin, die keine Lust mehr auf Potsdam hatte und deshalb nach Amrum gezogen ist, abgelöst von einer neuen, die vor allem den Meditationscharakter von Qi Gong in den Vordergrund stellt, weniger die Bewegungen. Jetzt bewegen wir uns tatsächlich fast gar nicht mehr. Meist sitzen wir nur da und lauschen den Worten der Trainerin und der Musik aus ihrer kleinen Bluetooth-Box. Das alles zielt darauf ab, unsere Vorstellungskraft zu aktivieren. 

Anfangs war ich etwas enttäuscht darüber, weil ich mich gern mehr bewegt hätte. Man verknüpft mit „Übungen“ automatisch etwas Körperliches, finde ich. Das müssen die anderen Teilnehmerinnen (genau wie im letzten Kurs finden sich stets nur Frauen ein) ähnlich gesehen haben, denn peu à peu sind immer weniger von ihnen zum Kurs erschienen, bis wir gestern nur noch zu dritt waren: Die Trainerin, ich und eine Frau, die recht jung auf mich wirkt, aber in den Pausen sehr gerne von ihren beiden Enkeln erzählt.  

Qi Gong ist eine "Bewegungsmeditation", die der westliche rational denkende Mensch leicht als etwas Esoterisches abtun könnte. Dabei bezeichnet "Qi" die Lebensenergie, die durch unseren Körper fließt. Ist der Energiefluss gestört, kommt es laut Traditioneller Chinesischer Medizin zu Beschwerden und Krankheiten. Die Übungen des Qi Gong sollen also Blockaden lösen, damit die Lebensenergie wieder unbehindert fließen kann.

Ich bin kein spiritueller Mensch und erstrecht keine Esoterikerin und trotzdem muss ich zugeben, dass Qi Gong selbst ohne den sportlichen Teil eine ausgesprochen positive Wirkung auf meinen Körper und Geist entfaltet. Nach dem Kurs zwickt es nicht mehr in meinem Rücken, ich bin superentspannt und falle abends in einen tiefen, erholsamen Schlaf voller seltsamer Träume. Ich fühle mich tatsächlich wie verwandelt. Leider hält die Wirkung nicht lange an.

Weil unserer Trainerin viel daran liegt, dass wir auch verstehen, welche Theorien dem Qi Gong zugrundeliegen, gibt sie uns hin und wieder Lesematerial mit. Ich möchte ein paar Sätze aus dem „Mantra der universellen Liebe“ zitieren, weil es mich an das letzte Kapitel aus Viktor Frankls „Über den Sinn des Lebens“ erinnert, auf das ich danach noch eingehen werde.

Der menschliche Körper, das Universum und alle Wesen sind holistisch, sind Eines. Du bist in mir und ich bin in dir; ich bin eins mit dem Universum und das Universum ist in mir. Die Krisis der Erde ist meine Krise. Die Probleme der anderen sind meine Probleme. Unabhängig von Glück oder Unglück, guter oder schlechter Gesundheit, steht alles, was in der Welt geschieht, in Beziehung zu mir. Um andere zu heilen, musst du zuerst dich selbst heilen. Um irgendein äußeres Problem zu lösen, musst du damit anfangen, zuerst dich selbst innerlich zu verändern und die volle Verantwortung zu übernehmen für alles, was auch immer in deinem Leben geschieht.

Zuvor habe ich mir das Hörbuch „Über den Sinn des Lebens“ des österreichischen Psychiaters Viktor E. Frankl angehört, das auf einer Vortragsreihe beruht, die Frankl kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an der Wiener Volkshochschule gehalten hat.

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Frankl hatte mehrere Konzentrationslager, darunter Auschwitz, überlebt, dort allerdings seine Eltern und seine Frau verloren. Den Sinn des Lebens hatte er allerdings schon zuvor in den Vordergrund seines beruflichen Schaffens gestellt. Frankl arbeitete vor seiner Internierung zumeist mit Menschen, die Suizidversuche unternommen hatten, um sie als Psychiater von der Sinnhaftigkeit ihres Lebens zu überzeugen.

In seinem Vortrag kommt er im Kapitel „Experimentum crucis“ hinsichtlich der Verantwortung des Menschen zu einem ähnlichen Schluss wie in den Weisheiten des Qi Gong:

Was wir in der Zeit schaffen, erleben, erleiden, das schaffen, erleben, erleiden wir zugleich für alle Ewigkeit. Soweit wir für das Geschehen Verantwortung tragen, soweit es also Geschichte ist, wird diese unsere Verantwortung unerhört belastet dadurch, dass nichts Ungeschehenes sich aus der Welt schaffen lässt. Gleichzeitig jedoch ist diese unsere Verantwortung aufgerufen dazu, das eben Ungeschehene in die Welt zu schaffen, und zwar im Rahmen je unseres Tagewerks, im Rahmen je unseres Alltags. So wird der Alltag zu der Wirklichkeit schlechthin, und diese Wirklichkeit zur Wirkensmöglichkeit. […] Was uns auf diesem Wege vorwärtsführt und hilft, was uns da geleitet und leitet, das ist Verantwortungsfreude.

Wie steht es jedoch um die Freudigkeit des durchschnittlichen Menschen, Verantwortung auf sich zu nehmen?

Verantwortung ist dasjenige, wozu man gezogen wird und dem man sich entzieht. Die Weisheit der Sprache deutet damit an, dass es im Menschen Gegenkräfte gibt, welche ihn davon abhalten, Verantwortung zu übernehmen. Und tatsächlich: Es ist etwas an der Verantwortung, das abgründig ist. Je länger und tiefer wir sie in den Blick nehmen, um so mehr werden wir dessen gewahr, bis uns schließlich eine Art Schwindel packt. Vertiefen wir uns in das Wesen menschlicher Verantwortlichkeit, dann erschauern wir. Es ist etwas Furchtbares um die Verantwortung des Menschen – und zugleich etwas Herrliches. Furchtbar ist es, dass ich in jedem Augenblick Verantwortung trage für den Nächsten, dass jede Entscheidung – die kleinste wie die größte – eine Entscheidung ist für alle Ewigkeit. Dass ich jeden Augenblick eine Möglichkeit, die Möglichkeit des Augenblicks verwirkliche oder verwirke. Nun birgt jeder einzelne Augenblick tausende von Möglichkeiten und ich kann nur eine einzige wählen, um sie zu verwirklichen. […]

Doch herrlich ist es, zu wissen, dass die Zukunft, meine eigene Zukunft und mit ihr die Zukunft der Dinge, der Menschen um mich irgendwie, wenn auch in noch so geringem Maße, abhängig ist von meiner Entscheidung in jedem Augenblick. Was ich durch sie verwirkliche – in die Welt schaffe – das rette ich in die Wirklichkeit hinein und bewahre es so vor der Vergänglichkeit.

Dass der durchschnittliche Mensch diese Verantwortung nicht einmal erkennt, geschweige denn wirklich trägt, ist Frankl bewusst. Er spricht sich deshalb für eine Erziehung zur Verantwortung aus. Wie wir an den letzten Wahlergebnissen ablesen können, ist in den knapp 80 Jahren, die seit seinem Vortrag vergangen sind, in dieser Hinsicht nicht viel passiert. Im Gegenteil, man könnte sogar glauben, die Menschen scheuen ihre Verantwortung mehr denn je, indem sie selbige nämlich ausschließlich der Politik in die Schuhe schieben. 

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Statt mich zu ärgern, denke ich jedoch an meine Qi-Gong-Übungen, mit denen ich wenigstens einmal pro Woche die „Sprache des Universums“ spreche. Vermutlich wären wir alle viel gelassener, wenn jeder von uns Qi Gong praktizieren würde, denn es verbindet und macht uns der Verantwortung füreinander bewusst, ohne viele Worte darüber zu verlieren. In diesem unvorstellbar großen Universum sind wir alle gleich: Winzig klein und völlig unbedeutend. Doch da das Universum auch in uns ist, sind wir Teil von etwas ganz, ganz Großen, und zwar jeder von uns. Wir alle zusammen.

MM


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2 Kommentare

  1. Queen All

    Sich auf eine neue Trainerin mit einer anderen Herangehensweise einzulassen, mag nicht jeder. Ich habe das im Yoga ähnlich erlebt und mit manchen Interpretationen konnte ich wenig anfangen. Ich finde es aber interessant, sich auch mal tiefer in die Theorien einzulassen. Da kann man viel Kluges lernen und für sich herausziehen. Und manchmal finde ich diese (eigentlich jahrhundertealten) Praktiken zugänglicher, als die philosophischen Texte. Ob´s was an der fehlenden Verantwortungsübernahme ändert, wage ich zu bezweifeln. Aber ein bisschen Universumssprache und mehr Gelassenheit täte in der Tat uns allen gut.

    • Miss Minze

      Wenn ich meiner Trainerin glauben darf, dann sind diese Praktiken sogar schon mehrere Jahrtausende alt! Es erstaunt mich wirklich immer wieder, welch positive Wirkung sie entfalten. Irgendeine Ur-Weisheit muss also drinstecken, von der jeder ohne weiteres profitieren kann/könnte.

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