Buchempfehlungen für die kalte Jahreszeit
Winterzeit ist Lesezeit. Um euch ein paar Buchempfehlungen ans Herz zu legen, habe ich mich bereits in der Adventszeit durch so manch ein Werk geschmökert. Nicht alle davon waren gut. Für euch habe ich hier die Rosinen herausgepickt. Los geht’s:
Die Vegetarierin
Kim Jiyoung, geboren 1982 hat mir Lust auf Koreanische Literatur gemacht. Also habe ich mich für eine weitere Autorin aus Südkorea entschieden, und zwar Han Kang. In „Die Vegetarierin“ schildert sie ein Jahr aus dem Leben einer jungen Frau, die sich zunächst dazu entschließt, nur noch vegetarisch zu essen und später dann auf jedwede Nahrung zu verzichten. Im Grunde geht es aber auch in diesem Roman darum, bis zu welchem Grad Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können, wenn sie in einer patriarchalischen Gesellschaft aufwachsen.
Tatsächlich ist die Protagonistin Yong-Hye frei. Sie kann tun und lassen, was sie will. Doch bei ihrem Willen fängt es schon an, denn Yong-Hye will eigentlich nur das, was andere von ihr verlangen. So hat sie es von Kindesbeinen an gelernt. Und deshalb hat sie auch verinnerlicht, keine eigenen Bedürfnisse zu haben.
Bis sie plötzlich von schaurigen Albträumen geplagt wird, aus denen sie die Anweisung herausliest, sich nur noch vegan zu ernähren. Sie magert ab, doch die Albträume bleiben. Schließlich isst sie gar nichts mehr, bildet sich ein, sie sei eine Pflanze, die lediglich Licht und Wasser zum Leben braucht, und landet in der Psychiatrie.
Als Leserin habe ich mich zunächst gewundert, warum Yong-Hye nur ihre Essgewohnheiten, nicht aber ihr Leben ändert, denn offenkundig erfüllt es sie nicht. Später wurde mir bewusst: Bevor man etwas ändern kann, muss man überhaupt erst erkennen, dass da etwas nicht stimmt. Ich vermute allerdings, dass Yong-Hye dies gar nicht bewusst ist. Ihre Eltern haben sie erfolgreich gebrochen. Der Wunsch, sich in eine Pflanze zu verwandeln und sich den Menschen zu entziehen, ist wahrscheinlich eine Rebellion, die ihrem Unterbewusstsein entspringt, das sich anhand ihrer Träume immer stärker bemerkbar macht.
Obwohl mich Yong Hye’s Schicksal weitestgehend kalt gelassen hat, konnte ich mich dem Bann des Romans doch nicht richtig entziehen. Zwar ist „Die Vegetarierin“ ein unterhaltsames Buch, aber auch ein sehr merkwürdiges, das seltsam ratlos stimmt. Die Autorin wurde deshalb übrigens schon mit Kafka verglichen.
Fazit: Wie gemacht für Leute, die gern grübeln.
Han Kang: „Die Vegetarierin“, Aufbau Verlag 2016, 190 Seiten
Heaven
Der japanische Roman Heaven befasst sich mit einem Thema, das vor allem Jugendliche betrifft: Mobbing. Kein Wunder also, dass der namenlose Ich-Erzähler ein Teenager ist, der noch zur Schule geht, um dort tagtäglich auf seine Peiniger zu treffen. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber was der Protagonist erlebt, geht einem beim Lesen doch sehr an die Nieren.
Was mich besonders irritiert hat, ist die Ignoranz seiner Mitschüler*innen, die zwar nicht direkt gewalttätig werden, ihm aber auch nicht helfen. Im Gegenteil, sie scheinen sich sogar an seinem Leid zu ergötzen. Die ganze Klasse kommt mir vor wie das Publikum in einer Kampfarena: Sie jubeln und klatschen und fühlen sich bestens unterhalten.
Zwar freundet sich der Protagonist mit seiner Mitschülerin Kojima an, die ebenfalls eine Außenseiterin ist und gemobbt wird, doch auch diese Freundschaft vermag sein Leid nicht zu mildern. Während Kojima sich bewusst dafür entschieden hat, nicht dazuzugehören und es als innere Stärke auffasst, Schläge entgegenzunehmen, aber niemals auszuteilen, hat der Ich-Erzähler einfach wahnsinnige Angst vor seinen Mobbern, weiß sich aber nicht zu helfen.
Immer häufiger denkt er über Suizid nach. Warum er sich nicht an seine Lehrer, Eltern oder andere Bezugspersonen wendet, bleibt offen – und hat mich als Leserin natürlich ratlos gestimmt.
In seiner Verzweiflung nimmt er all seinen Mut zusammen und spricht einen seiner Mobber direkt an. Er will wissen, warum der ihn quält. Daraus entwickelt sich ein ebenso interessanter wie unbefriedigender Dialog zwischen Opfer und Täter, der zu Tage fördert, wie wenig Bedeutung der Mobber dem Protagonisten und dessen Gefühlen beimisst. Tatsächlich geschieht all die Gewalt gegen den Ich-Erzähler völlig grundlos, ja zufällig! Die Mobber wollen Spaß haben – das ist alles.
Okay, die meisten in unserer Klasse mobben dich, ja. […] Sie hänseln dich, demütigen dich, treten und schlagen dich. Genau wie du sagst: täglich. Das stimmt. Sie wissen, dass du schielst und nennen dich Schielauge. Das stimmt auch. Aber das ist zufällig. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du wirst nicht gemobbt, weil du schielst. […] Dass es dich getroffen hat, hat sich so ergeben. Wir waren zufällig in Stimmung, und du warst zufällig da. […] Es gibt keinen tieferen Sinn. Sie tun es, weil sie es tun wollen. Sie haben einfach Lust. Diese Lust ist erst einmal weder richtig noch falsch. Sie ist einfach da.
M. Kawakami: Heaven
Der Ich-Erzähler ist das dankbarste Opfer, das sich ein Mobber wünschen kann. Da er sich nie wehrt und sich niemandem anvertraut, drohen seinen Peinigern keinerlei Konsequenzen für das Unrecht, das sie ihm antun. Sie sind sich gewiss, dass der „Spaß“ nie aufhört.
Fazit: Wer alles still erträgt, ändert nichts.
Mieko Kawakami: „Heaven“, Dumont 2021, 190 Seiten
Die Straße
Der Roman von Cormac McCarthy passt perfekt in die Winterzeit, handelt er doch von einer ewig kalten dystopischen Welt. Wie lebensfeindlich sich das anfühlen muss, kann der Leser im Januar sozusagen besonders gut nachempfinden.
Es ist das Ende, über das McCarthy in „Die Straße“ schreibt. Das Ende von allem. Kein Neuanfang, kein Refugium, in welchem es doch noch irgendwie weitergeht. Nichts.
Nach einer nicht näher genannten Katastrophe gibt es nahezu keine Menschen mehr auf der Erde, ebenso wenig Tiere oder Pflanzen. Alles ist verbrannt, weshalb der Himmel voller Asche ist und es auch tagsüber allenfalls dämmrig wird. Weil die Sonne niemals scheint, wird es stetig kälter. In eiskaltem Regen und Schnee schleppen sich ein Vater und dessen Sohn auf einer Straße Richtung Süden – in der Hoffnung, dass es dort wärmer ist. Der Ozean ist ihr Ziel.
Um dort hinzugelangen, gilt es, sehr vorsichtig zu sein. Aus Angst, getötet und verspeist zu werden, müssen sie vor anderen (sehr wenigen) Überlebenden ständig auf der Hut sein. Sie selbst ernähren sich vorwiegend von Konserven, die sie in den Ruinen entlang der Straße finden. Da „das Ereignis“, das die Welt auslöschte, schon Jahre zurückliegt, sind derlei Nahrungsmittel jedoch rar. Entsprechend abgemagert sind Vater und Sohn. Im Verlauf der Reise wird der Vater zudem immer kränker und auch der Junge angesichts ihrer verzweifelten Lage zusehends lebensmüde.
Es ist ein denkbar freudloses Dasein, dass die beiden fristen und obwohl man sich als Leser beinahe sicher ist, dass es auch am Ziel nicht anders sein wird, gibt man die Hoffnung auf Besserung nicht auf.
Obwohl der Roman sich inhaltlich auf wenige Elemente – kurzer Zeitraum, zwei Protagonisten, kaum Abwechslung in der Handlung – beschränkt, übte er eine solche Faszination auf mich aus, dass ich mich kaum von den Zeilen lösen konnte. Voller Spannung, aber auch Mitleid mit den gezeichneten Figuren erwartete ich den nächsten trostlosen Tag und die folgende noch trostlosere Nacht. Belohnt wurde ich für mein Durchhaltevermögen genauso wenig wie die beiden Protagonisten.
Fazit: Hoffnungslos
Cormac McCarthy: „Die Straße“, Rowohlt Taschenbuch 2008, 256 Seiten
Wenn der Körper nein sagt…
…Wie chronischer Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können.
Ein weiteres Buch, das traurig stimmt, obwohl es eigentlich den Anspruch hat, zu helfen. Der kanadische Mediziner und Autor Dr. Gabor Maté versucht nämlich zu ergründen, welchen Einfluss die Psyche bei der Entstehung von oftmals tödlich verlaufenden Krankheiten wie Krebs, MS, Alzheimer u.a. hat. Er geht also nicht auf Faktoren wie die genetische Veranlagung oder den Lebensstil (Ess- und Schlafgewohnheiten usw.) ein, sondern legt den Fokus auf den Geist des Erkrankten und sein soziales Umfeld.
Was ich an seinen Ausführungen so deprimierend finde, ist die Erkenntnis, dass viele Menschen im Leben doppelt gestraft sind. Anhand zahlreicher Studien belegt Maté seine These, dass gerade jene, die in ihrer Kindheit wenig Liebe, Zuspruch oder Fürsorge erfahren haben, ein deutlich höheres Risiko haben, im Erwachsenenalter schwer zu erkranken – insbesondere an Autoimmunerkrankungen. Unter Autoimmunerkrankungen ist eine Fehlsteuerung des Immunsystems zu verstehen, bei der körpereigene Strukturen – Zellen und Organe – angegriffen werden.
Maté drückt den Zusammenhang folgendermaßen aus:
Das Potenzial für Ganzheit, für Gesundheit, steckt in jedem von uns, ebenso wie das Potenzial für Krankheit und Disharmonie. Krankheit ist Disharmonie. Genauer gesagt, ist sie Ausdruck einer inneren Disharmonie. Wenn wir Krankheit als etwas Fremdes und Äußerliches betrachten, führen wir am Ende vielleicht einen Krieg gegen uns selbst.
Gabor Maté: Wenn der Körper Nein sagt
[Das o.g. Zitat habe ich mehr oder weniger frei übersetzt, da ich das Buch als Hörbuch auf Englisch gehört habe. Die folgenden Zitate gebe ich im englischen Original wider.]
Maté veranschaulicht seine Thesen stets anhand von Fallbeispielen aus seiner eigenen Praxis. Immer wieder taucht er tief in die Biografien und Psyche seiner Patient*innen ein. Das liest sich sehr spannend und ist immer wieder erhellend, wenngleich man sich als Leser*in ein bisschen voyeuristisch vorkommt. In der Regel handelt es sich schließlich um Menschen, die ihren Krankheiten erlegen sind.
Wie entkommt man diesem Teufelskreis nun? Darauf geht Gabor Maté in den letzten Kapiteln seines Buches ein. Zwar gibt er keine konkreten Handlungsanweisungen, aber wertvolle Denkanstöße:
Da wäre zum Beispiel das schlechte Gewissen, das viele seiner Patient*innen haben, wenn sie „nein“ sagen oder nicht die vermeintlichen Erwartungen ihrer Nächsten erfüllen. Um ihr Gewissen zu besänftigen, nehmen sie lieber Mehrarbeit auf sich oder sind über alle Maßen tolerant und liebenswürdig. Innerlich grollen sie den Nutznießern zwar, sprechen dies jedoch selten oder gar nicht an. Abgesehen davon, dass kaum jemand möchte, dass man sich für ihn aufopfert, gehört dieser Groll zu den schlimmsten Krankmachern. Daher empfiehlt Maté, lieber das schlechte Gewissen in Kauf zu nehmen, wenn man sich scheinbar egoistisch verhält. Die eigenen Grenzen kennen und kommunizieren(!) sorgt einfach für ein gesünderes Leben.
Weil mir viele Passagen aus der Seele sprechen und mich an eigene Überlegungen und Beiträge auf Miss Minze erinnern, möchte ich abschließend noch einmal aus Matés Buch zitieren. Dass der Wert eines Menschen in unserer Gesellschaft oftmals auf ökonomische Leistungen reduziert wird, ist so ein Beispiel:
In Tuesdays with Morrie, Mitch Albom reports that Morrie Schwartz, his former professor terminally ill with ALS, “was intent on proving that the word ‘dying’ was not synonymous with ‘useless.’” The immediate question is why one would have a need to prove this. No human being is “useless,” whether the helpless infant or the helpless ill or dying adult. The point is not to prove that dying people can be useful but to reject the spurious concept that people need to be useful in order to be valued.
Morrie learned at a young age that his “value” depended on his ability to serve the needs of others. That same message, taken to heart by many people early in life, is heavily reinforced by the prevailing ethic in our society. All too frequently, people are given the sense that they are valued only for their utilitarian contribution and are expendable if they lose their economic worth.
Gabor Maté: When the Body Says No: The Cost of Hidden Stress
„Utilitarian contribution“ kann man etwa so übersetzen, dass der Mensch einen Beitrag leisten soll, der möglichst zweckorientiert oder nützlich ist. Wer Kinder hat, fühlt sich jetzt mit Sicherheit an eine ganz bestimmte Fernsehserie erinnert. Zumindest habe ich sofort an „Bob der Baumeister“ gedacht. Leider eine der Lieblingsserien meines Sohnes, als er drei, vier Jahre alt war. In dem Cartoon wetteifern sprechende Baumaschinen darum, besonders nützlich sein zu dürfen. Und natürlich erschaffen sie letzten Endes in Teamwork immer etwas Großartiges. Die Serie war mir schon damals nicht ganz geheuer. Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, kommt sie mir vor wie Gehirnwäsche. Zum Glück wurde sie abgesetzt. Aber wer weiß, durch welchen Schwachsinn sie ersetzt wurde?
Fazit: Die Lektüre von „Wenn der Körper nein sagt“ bescherte mir jedenfalls so manch eine (Selbst-)Erkenntnis. Das Buch steckt einfach voller nützlicher Weisheiten. 😉
Lest es am besten selbst!
Gabor Maté: „Wenn der Körper nein sagt: Wie chronischer Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können“, Unimedica ein Imprint der Narayana Verlag, 328 Seiten
MM
Beitragsbild von Annie Spratt
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