Rezension: „Der Winter unseres Missvergnügens“ von John Steinbeck
Ich hatte es eilig, also griff ich in der Bibliothek nach dem erstbesten Buch, das mir ins Auge fiel. Es war nur halb so groß wie die anderen Bücher im Regal, vom himmelblauen Cover lachte ein gut gelaunter Herr. Meine Wahl fiel also auf John Steinbeck’s “Der Winter unseres Missvergnügens”.
Beim Lesen musste ich feststellen, dass es sich nicht um einen klassischen Unterhaltungsroman handelt, sondern eher um ein Lehrstück darüber, wie aus einem sympathischen Trottel ein eiskalter Geschäftsmann wird:
Die Wandlung des Ethan Hawley
Unser Protagonist Ethan Hawley ist der einzige Spross einer einst einflussreichen Familie. Als wir ihn kennenlernen, ist er Ende dreißig, glücklich verheiratet, hat zwei Kinder im Teenager-Alter und arbeitet als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft. Vor nicht allzu langer Zeit gehörte ihm der Laden selbst, doch er hatte kein Händchen fürs Geschäft, verschuldete sich und musste seinen Laden an einen italienischen Einwanderer verkaufen, bei dem er nun angestellt ist.
Ethan ist sich seiner niedrigen gesellschaftlichen Stellung und der Nachteile seines Jobs bewusst, die vor allem darin liegen, wenig Einkommen zu beziehen und vor seinem Chef Marullo buckeln zu müssen. Doch er weiß auch, dass es seinem Naturell widerspricht, ein Geschäftsmann zu sein. Deshalb bedauert er sein Schicksal nicht, sondern findet es nur folgerichtig, ein kleiner, aber ehrlicher Angestellter zu sein.
Es scheint Ethan nichts auszumachen, dass ihm vom einstigen Wohlstand seiner Vorfahren nur ein prächtiges Haus geblieben ist, in dem er nun mit seiner Familie wohnt. Zumindest gilt sein Streben nicht dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen (Wieder-)Aufstieg. Er hat sich in seinem Leben eingerichtet. Es genügt ihm.
Seine Frau Mary allerdings strebt nach Höherem. In ihrem Wohnort, wo jeder jeden kennt, will sie nicht bloß die Frau eines Verkäufers sein. Sie will erhobenen Hauptes durch die Straßen schreiten. Aus ihrer Sicht funktioniert das nur mit Hilfe eines “Status-Upgrades”. Wie in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts üblich, arbeitet sie jedoch nicht, sondern kümmert sich um den Haushalt. Es liegt also an Ethan, sich etwas mehr anzustrengen…
Alle Welt lacht doch über dich. Ein großspuriger Gentleman ohne Geld ist nichts als ein Penner.
John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens
Mary ist nicht die einzige, die Forderungen stellt. Plötzlich wenden sich gleich mehrere Bekannte mit Ratschlägen an Ethan: Die beste Freundin seiner Frau prophezeit ihm Reichtum. Der Bankdirektor drängt ihn, das wenige Ersparte der Familie endlich gewinnbringend anzulegen. Ein Großhändler versucht, Ethan zu bestechen, und sein Freund Joey ist fassungslos, als er hört, dass Ethan das Bestechungsgeld abgelehnt hat. Als Ethan seine Gründe hervorbringt – ehrlich und anständig zu handeln – bezeichnet er ihn als Ewiggestrigen. Ethan könne es sich nicht leisten, ethisch zu handeln. Geld habe für ihn Vorrang. Erst wenn er zu einem anständigen Sümmchen gelangt sei, könne er sich ja wieder der Moral widmen. Und überhaupt machen das doch alle so. Ethan erkennt das zwar auch, doch bislang weigerte er sich, diese Wahrheit für sich anzunehmen.
Das machen doch alle!
Schließlich nimmt er sich die Worte seiner Gefährten zu Herzen. Er schlägt einen Weg ein, der ihm zwar wesensfremd ist, aber Erfolg verspricht, denn “Stärke und Erfolg – sie waren über jede Moral, jede Kritik erhaben. […] Bestraft wird einzig das Versagen.”
Niemand hatte mich gezwungen, diesen Weg zu gehen. Für eine Weile tauschte ich gewohnte Verhaltensweisen und Einstellungen gegen Komfort, Respekt und das Ruhekissen Sicherheit ein. Es wäre zu einfach, mir einzureden, dass ich es für meine Familie tat, da ich wusste, deren Komfort und Sicherheit würden mir zu Selbstachtung verhelfen.
John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens
Dabei macht sich Ethan zunutze, dass er unterschätzt wird. Seine Freunde und Bekannten halten ihn für einen netten, harmlosen Kerl, einen sympathischen Trottel, wie es im Buch heißt. Niemand ahnt, dass er seinen Chef Marullo bei der Einwanderungsbehörde verpfeift. Kein Mensch kann glauben, dass Ethan sogar seinem besten Freund Danny nach dem Leben trachtet, um an dessen lukratives Grundstück zu gelangen. Er manipuliert und lügt, wird kalt und berechnend. Und es lohnt sich: Am Ende kommt er zu Geld und hat sogar politischen Einfluss. Frau und Kinder sind überglücklich. Jene, die ihn einst verspotteten, zollen ihm Respekt, ja fürchten ihn sogar. Er hat es geschafft.
Doch dafür musste er Anstand und Ehre opfern.
Es stimmt nicht, dass es eine Gemeinschaft der Lichter gibt, Freudenfeuer der Welt. Jeder trägt sein eigenes Licht, sein eigenes, einsames Licht. […] Mein Licht ist aus. Nichts ist schwärzer als ein erloschener Docht.
John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens
Das Licht ist aus
Obwohl der Roman 1961 erschienen ist, greift er eine Entwicklung vorweg, die uns noch heute stark beeinflusst. Mehr denn je gilt es doch, sich wirtschaftlichen Interessen zu unterwerfen, um voranzukommen. Der Erfolg ist das Maß aller Dinge. Lerne bis ins hohe Alter! Bleib flexibel! Passe dich dem Arbeitsmarkt an! Fang mit 40 noch mal ein Studium an! Orientiere dich neu! Lass dein Geld nicht auf dem Girokonto liegen – investiere es lieber in Bitcoin! Ergreife jede Chance, die sich dir bietet!
„Sei ein guter Mensch!“ hört man hingegen nur noch in der Kirche. Aber wer geht schon in die Kirche?
Einem Ethan Hawley bleibt es versagt, ein einfacher Verkäufer zu sein. Er soll gefälligst etwas aus sich machen. “Die […] geplante Entwicklung würde für manche Menschen Leid bedeuten, für manche gar den Untergang, doch die Entwicklung selbst würde dies keinesfalls aufhalten.” Aus einem vormals zufriedenen Menschen wird einer mit Suizidgedanken, der für die Abschiebung Marullos verantwortlich ist und dafür, dass sich sein bester Freund das Leben nimmt. Wenn einer gewinnt, verliert ein anderer.
Doch man braucht nicht gleich über Leichen zu gehen, um erfolgreich zu sein. Man muss lediglich seine Moralvorstellungen etwas… dehnen.
Ein Verhaltensmuster, das Ethans Sohn Allan bereits in jungen Jahren verinnerlicht hat. Bei einem nationalen Wettbewerb bekommt er eine Auszeichnung für seinen Aufsatz. Kurz vor der feierlichen Preisübergabe stellt Ethan jedoch fest, dass kein Wort in diesem Aufsatz von seinem Sohn stammt. Allan hat aus den verschiedensten historischen Büchern zitiert – und die Zitate als seine eigenen Worte ausgegeben. Zur Rede gestellt, zeigt sich sein Sohn uneinsichtig. Schließlich würden das doch alle so machen. Dass sein eigener Sohn, die Zukunft Amerikas, so verlogen ist, es bricht Ethan am Ende das Herz.
„Das machen doch alle“, ist ein Satz, der im Buch gleich mehrmals fällt. Und er erinnerte mich sogleich an den VW-Diesel-Skandal vor ein paar Jahren. In meinem Bekanntenkreis hatten sich einige just zu dieser Zeit einen VW gekauft, was mir fragwürdig erschien. „Warum entscheidest du dich gerade jetzt, wo sich herausgestellt hat, dass der VW-Konzern lügt und betrügt, für eines ihrer Autos?“, wollte ich von ihnen wissen. Meine GesprächspartnerInnen quittierten diese Frage mit einem Schulterzucken: „Die betrügen doch alle“, lautete ihre schlichte Antwort. Wenn also „alle“ betrügen, ist es okay, zu betrügen? Heutzutage erscheint einem das ethische Bewusstsein eines Ethan Hawley geradezu lächerlich.
Es bricht niemandes Herz mehr, wenn ein Betrug aufgedeckt wird.
John Steinbeck erhielt 1940 den Pulitzer Preis und 1962 den Nobelpreis für Literatur. Er lebte von 1902 bis 1968. „Seine Bücher Früchte des Zorns und Von Mäusen und Menschen wurden aufgrund ihres Stils und ihrer Wortwahl mehrmals aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Die American Library Association führt sie auf ihrer Liste der in Nordamerika am häufigsten verbotenen Klassiker.“ (Wikipedia)
MM
Beitragsbild: von Cody Hiscox on Unsplash
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