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Auch im fortgeschrittenen Alter gewinnt man noch neue Erkenntnisse!

Gestern ist mir sogar etwas Bedeutendes klar geworden, nämlich dass man sich an alles gewöhnen kann, selbst an die Gefangenschaft in einem goldenen Käfig.

Zeiten des Aufruhrs” hat mich berührt, weil ich angenommen habe, der Grundtenor des Romans treffe auch auf mein Leben zu: Ohne recht zu wissen, wie ihnen geschieht, rutschen die Protagonisten in ein Leben hinein, das sie nie wirklich angestrebt haben. Es hat sich eben so ergeben. Und da es ein komfortables Leben ist, sehen sie (vorerst) keinen Grund, es zu ändern. Im Gegenteil, sie lassen sich ganz darauf ein, verstricken sich in den Berufs- und Familienalltag, nehmen ihre Rollen an. Trotzdem fühlt sich die Protagonistin in diesem Leben nicht „zu Hause“. Es entsteht also der Wunsch, sich zu befreien – und noch einmal von vorn anzufangen. Kurz, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. 

In “Zeiten des Aufruhrs” geht das nach hinten los: Die Protagonistin – Achtung! Spoiler!!! – stirbt beim Versuch, ihr Leben zu ändern. Sie hat das Risiko in Kauf genommen, so unerträglich schien ihr die Existenz im goldenen Käfig.

Die Geschichte spielt in den 50ern des 20. Jahrhunderts. Derartigen gesellschaftlichen Zwängen ist keiner von uns mehr unterworfen. Wir sind freier. Wir können tun und lassen, was wir wollen. Dabei müssen wir nicht einmal hohe Risiken eingehen. Aber wir tun es nicht.

Ich jedenfalls nicht. Zu dieser Erkenntnis bin ich gestern folgendermaßen gelangt: 

Jemand hat mir angeboten, meine Webseite zu kaufen. Er hat mir dafür so viel Geld geboten, dass ich etwa zwei Jahre lang nicht arbeiten bräuchte. Anfangs war ich hellauf begeistert, doch nach einiger Überlegung musste ich mir eingestehen, dass ich ohne meine Arbeit nicht viel zu tun hätte. Ich wüsste also gar nicht, was ich mit meiner freien Zeit anfangen soll. Klar, ich könnte das ein oder andere Projekt in Angriff nehmen, aber das wären nur Hobbys, die langfristig nichts bringen. Nur Zeitvertreib.

Dann kam ich auf die Idee, weit zu reisen und das möglichst lange. Das wollte ich schon längst machen und nun würde ich endlich das nötige Geld dafür haben. Bingo

Aber auch diesen Gedanken musste ich bald schon verwerfen, denn ich wusste nicht, wohin ich reisen soll. Kein Ziel reizt mich so sehr, dass ich entschlossen genug wäre, allein dorthin zu fahren. Und überhaupt, was soll ich denn allein auf Reisen, wenn meine Liebsten zu Hause arbeiten und zur Schule gehen müssen? Wenn ich mit niemandem mein Reiseglück teilen kann, bleibt der Genuss doch völlig auf der Strecke. Ich habe keine Lust auf einen Egotrip.

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Insofern musste ich feststellen, dass ich im Grunde wunschlos glücklich bin, zumindest was meine Lebensumstände betrifft. Nein, ich muss mir keine Träume mehr erfüllen. Ich weiß noch nicht einmal, wovon ich träumen sollte. Diese Erkenntnis hat mich sehr überrascht. Um ehrlich zu sein, kann ich es immer noch nicht glauben. Deshalb denke ich schon den ganzen Tag darüber nach, ob es nicht doch irgendetwas gibt, das fehlt.

Gerade ist mir tatsächlich noch etwas eingefallen: Ich würde gern woanders wohnen – wo konkret, weiß ich allerdings nicht, am liebsten aber an einem entlegenen Ort in der Natur, ohne Nachbarn weit und breit. Die nächste Stadt müsste trotzdem schnell erreichbar sein. Vielleicht sollte ich all meine Energie darauf verwenden, einen solchen Ort zu finden. Das könnte man dann ja auch mit dem Reisen verbinden, hm. Klingt verlockend.

Klingt aber auch irgendwie… erbärmlich, oder?: Mein Traum ist es, einen anderen Wohnort zu finden. Kann man so etwas überhaupt Traum nennen?
Das erinnert mich an eine Szene aus The Expanse, als der Serien-Bösewicht und Anführer der Ausgebeuteten (Marco Inaros) sagt: This has always been a problem for our kind. Even our dreams are small. Seine Leute haben sich schon so sehr an ein Leben ohne Rechte gewöhnt, dass sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen können, gegen ihre Unterdrücker aufzubegehren. Sie haben aufgehört, von einem besseren Leben zu träumen.

Kurze Zeit später wird Inaros zum Massenmörder, indem er bei einem Anschlag mehrere Millionen Menschen tötet. Ein weiterer literarischer Hinweis darauf, dass es alles andere als erstrebenswert ist, von „großen Taten“ zu träumen.

Trotzdem bin ich unschlüssig, wie meine Wunsch- und Traumlosigkeit zu bewerten ist. Sie ist mir suspekt, zeigt sie mir doch, dass ich mich komplett in mein Schicksal ergeben habe. (Oder dass einfach alles supi läuft. Warum bin ich eigentlich immer so negativ?) Jedenfalls verkaufe ich meine Webseite nicht.

Denn ich fühle mich schon richtig heimelig in meinem goldenen Käfig, habe mich bestens darin eingerichtet. Man könnte auch sagen, ich habe mich geistig darauf beschränkt. Das kostet mich einen großen Teil Freiheit, aber – offen gesagt – merke ich davon so gut wie nichts. Noch ein paar Jährchen hier und ich habe es völlig vergessen.

Wunschlos… Wie bitte?

D. hat mir vor ein paar Tagen eröffnet, dass sie in den Sommerferien samt Familie umziehen wird. M. vermietet ihr Haus in Beelitz. Es wird in zwei Wohnungen unterteilt. Dafür leben sie bald selbst ein einer Wohnung mit Blick auf die Ostsee. Nun, im Herzen sind sie immer Norddeutsche geblieben. Ihr Entschluss wundert mich deshalb überhaupt nicht. Allerdings hat mich die Dringlichkeit ihrer Umsetzung doch überrascht. Ich bin davon ausgegangen, dass sie ihr Umzugsvorhaben vielleicht in zehn Jahren in die Tat umsetzen. Nun erfolgt es quasi Hals über Kopf.  

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Dass sie umziehen, bestürzt mich, weil ich damit eine Verbündete verliere. Meine einzige. Ich habe mich lange nicht mehr so einsam und verlassen gefühlt.

So ging es D. seit ihrer Ankunft in Beelitz vor neun oder zehn Jahren. Genau wie ich hat sie nie Anschluss gefunden. Dabei ist sie durchaus bereit gewesen, auf die Leute zuzugehen. Anders als ich war sie sich nie zu schade, auf die Leute zuzugehen. Genützt hat es ihr nichts. Die Beelitzer sind distanziert geblieben. D. war so isoliert wie ich. Und so haben wir uns also gegenseitig aus der Isolation befreit, was schön war, ein wirklich erhebendes Gefühl.

Ein Ort kann noch so schön sein – wenn man nur von guten Bekannten umgeben ist, hat das alles keinen Wert. Insofern habe ich mir selbst also doch noch meine eigene Frage beantwortet:

Nein, ich bin nicht wunschlos glücklich. Aber immerhin weiß ich nun, was mir fehlt.

MM


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